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Kinderlyrik der DDR  





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5.21 Kinderlyrik der DDR (2013, geändert 2021)

Einführung

 

Es mag überflüssig erscheinen, gut zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sich mit Kinderlyrik der DDR zu beschäftigen und eine Sammlung von Kindergedichten aus vierzig Jahren DDR zu veröffentlichen. Welches Interesse steht dahinter? Wenn man davon ausgeht, dass Gedichte nicht nur in Büchern stehen, sondern auch in den Köpfen der Kinder verankert sind, wenn man ihnen eine bewußtseinsbildende Wirkung zutraut, dann muss es Unterschiede in der Sozialisation der Kinder im Osten und im Westen gegeben haben. Oder gab es neben den wenigen, eindeutig als DDR-Lyrik erkennbaren Texten auch Gemeinsamkeiten, wenn auch nicht der AutorInnen, so doch auf die Vorstellungswelt der Kinder fokussierte Inhalte? Es wäre aber naiv zu glauben, es könne sich bei der Textsammlung um eine neutrale, rein historische Retrospektive eines beliebigen Zeitraums handeln. Das zeigt sich auch bei der Nachfrage wegen des Abdrucks der Texte, bei der es teilweise zu heftigen Reaktionen kam, weil man sich von den ehemaligen Weggenossen distanzieren wollte. Man hat den Eindruck, dass immer noch traumatische Erfahrungen aus dieser Zeit aufgearbeitet werden müssen. Andererseits gab es aber auch Zustimmung zu dem Projekt, weil man sich davon eine späte Anerkennung der DDR-Kinderlyrik versprach. Völlig zu Recht muss die Frage gestellt werden, ob ein westdeutscher Literaturwissenschaftler dieses Projekt angemessen behandeln kann. Mindestens kann man ihm nicht den Vorwurf der Nostalgie machen. Neben der Kompetenz derer, die die damalige Literaturszene und die Lebensumwelt kannten, kann ich mich an den Quellen und an ästhetischen Kategorien orientieren.

 

Lyrik für Kinder, Lyrik für Erwachsene

Blickt man auf die Geschichte der Definitionsversuche zum Begriff "Kinderlyrik", dann kommt man zu der Einsicht: kompliziert, um nicht zu sagen: konfus. Am besten, man geht ganz pragmatisch vor. Was Kindern in Grundschullesebüchern (also bis einschließlich Klasse 4) angeboten wird, darf getrost als "Kindergedicht" gelten, allerdings wieder mit der Einschränkung didaktischer Hochseilakte aus der Zeit, als man sich bemühte, auch Celan-Gedichte für Kinder zu erschließen. Seit den 80er Jahren ist in der BRD eine Entwicklung zu beobachten, die sich ansatzweise auch in der DDR zeigte: Von 1984 bis 1990 gab Uwe-Michael Gutzschhahn mit aufwändigem Layout die zwölf Bände der Reihe RTB Gedichte (=Ravensburger Taschen Buch) heraus. Er suchte z.B. aus dem Werk von Pastior und Mayröcker, Härtling und Jandl, Fried und Rathenow, Grass und Meckel Gedichte, die bisher nicht in Kinderlyrik-Anthologien zu finden waren. Die Illustrationen stammten in sechs Bänden von den Autoren. In dieselbe Richtung ging Ute Andresen mit ihrer Anthologie Im Mondlicht wächst das Gras (1991). Auch bei ihr spielt die künstlerische Gestaltung des Bandes mit den Illustrationen von Dieter Wiesmüller eine wichtige Rolle für die ästhetische Erziehung der Kinder. Als dann auch Hans-Joachim Gelberg sein bisheriges Editionsprinzip verließ, nämlich AutorInnen um Texte zur Erstveröffentlichung zu bitten, und stattdessen inder Erwachsennlyrik nach Texten für Kinder suchte, da gab es kein Halten mehr: Die gesamte Balladentradition stand als Reservoir zur Verfügung, Rilke und Hofmannsthal, Klassiker wie Weltende von Jacob van Hoddis (schon bei Andresen), und Der Panther fand sich im Kapitel "Tiere" unmittelbar neben Bum bam beier.Wenigstens für die BRD ist nicht zu übersehen, dass diese Entwicklung parallel läuft mit einem auffallenden Rückgang an innovativen Texten für Kinder. Ist auch das Interesse der Vermittler und Käufer erlahmt?

Für die DDR ist mir nur ein groß angelegter Versuch bekannt, Erwachsenenlyrik Kindern zugänglich zu machen, allerdings vor einem völlig anderen literatursoziologischen Hintergrund. Im Unterschied zur BRD, wo man die AutorInnen an einer Hand aufzählen könnte, die sowohl für Erwachsene wie für Kinder schreiben, verbietet die kulturpolitische Konzeption der DDR diese Trennung. Hintergrund der Gleichberechtigung von Erwachsenenliteratur und KJL war der kulturpolitische Grundsatz: Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR ist Bestandteil der Nationalliteratur. Deshalb wurden alle Autoren, besonders die literarisch herausragenden, geworben für Kinder gleichermaßen zu schreiben. 1978 wählte Edith George unter dem Titel Was sieht die Ringeltaube“? Texte aus Büchern, die für erwachsene Leser herausgegeben wurden. Kaum vorstellbar ist auf dem Buchmarkt der BRD, dass in einem Band Gedichte für Erwachsene und Kinder nebeneinander stehen wie z.B. in Muckes Wetterhahn und Nachtigall (1974), in dem u.a. die Kalendergedichte für Kinder abgedruckt wurden sowie Freche Vögel, das 1977 zum Titel für einen Band im Kinderbuchverlag wurde. Schon Kahlau hatte seine Gedichte für Kinder in Fluß der Dinge (1964) und in Balladen (1971) veröffentlicht, also Lyrikbänden für Erwachsene (vgl. Gelbrich 1981, 294 f)

 

Kinderlyrik der DDR

Einfacher scheint die Eingrenzung "Kinderlyrik der DDR". Damit sind die Gedichte gemeint, die zwischen 1945 und 1990 geschrieben und verlegt wurden; dabei spielen, wie im Westen auch neben den Gedichtbänden einzelner AutorInnen die Anthologien eine zentrale Rolle, aber auch die vierzehn zwischen 1976 und 1989 von Hilga Cwojdrak und Katrin Pieper herausgegebenen Jahrbücher für Kinder, in denen neue Texte und Bilder weite Verbreitung fanden. Eine Besonderheit der DDR ist die Reihe Die kleinen Trompeterbücher, die viele Gedichtbände enthielt; seit 1959 erschienen bis zur Wende etwa 200 dieser Pappbändchen im Kleinformat. Die Zeitspanne DDR würde jedoch wichtige Werke ausschließen, neben Brechts Kinderliedern aus den Jahren 1934 und 1937 auch andere Texte, die in die Traditionslinie der DDR gehören. "Zu den Quellen der Lyrik für Kinder in der DDR gehört die frühe sozialistische Literatur für Kinder in Deutschland bzw. die während des antifaschistischen Exils entstandene Literatur einzelner Dichter, z. B. Brecht, Becher, Fürnberg und Weinert". (Schulz 2006 Sp. 766) Andererseits könnten sich Kunze und Kunert, die 1977 bzw. 1979 die DDR verließen und auch Sarah Kirsch dagegen wehren, als DDR-Autoren vereinnahmt zu werden, und doch erschienen ihre Gedichte in Anthologien des Kinderbuchverlags.

Außer der oben genannten engen Verflechtung von Kinder- und Erwachsenenlyrik gibt es drei weitere Besonderheiten im Vergleich zur BRD. Sie sind in den wissenschaftlichen Arbeiten von Altner u.a. klar erkennbar: die Jugendlyrik erhält ein Eigengewicht neben der Kinderlyrik, das Lied spielt eine zentrale Rolle in der Erziehung und schließlich ist das Schreiben der Kinder und Jugendlichen selbst von zentraler Bedeutung. Gelbrich etwa widmet der „Poetenbewegung der jungen Generation“ ein eigenes Kapitel (Gelbrich 1981, 305 – 313). Die einzige umfassende Arbeit zum Jugendgedicht ist Edwin Kratschmers Poetologie des Jugendgedichts (1996); auf der Basis der etwa 100 000 Texte der "Sammlung Kratschmer-Würtz Jugendlyrik der DDR 1968 – 1990" hat er seine unveröffentlichte Leipziger Dissertation von 1969 weitergeführt.

Während Übersetzungen von Kinderlyrik aus den "sozialistischen Bruderländern" eine große Rolle spielten, sind Berührungen mit dem Westen verständlicherweise nur ganz marginal. Relativ offen waren die Grenzen bis in die Mitte der 60er Jahre, als die epochemachenden, klassisch gewordenen Anthologien entstanden: im Westen So viele Tage wie das Jahr hat, herausgegeben von James Krüss und im Osten Ans Fenster kommt und seht, herausgegeben von Edith George und Regina Hänsel. Nicht nur die Auswahl, besonders bei den Gedichten aus dem 19. Jahrhundert, weist eine große Übereinstimmung auf, sondern es gibt weitere erstaunliche Parallelen. Die Erscheinungsjahre liegen nahe beieinander, 1959 und 1964, Buchformat und Einband sind fast identisch – und die Illustrationen stammen in beiden Büchern von Eberhard Binder-Staßfurt; zusammen mit seiner Frau Elfriede hat er die 8. Auflage der Krüss-Anthologie 1989 neu illustriert. Krüss nimmt drei politisch "unverdächtige" Gedichte aus der DDR in seine Sammlung: Brechts Der Pflaumenbaum, aus einem Band des Kinderbuchverlags Der Pfefferkuchenmann von Erika Engel und Der kleine Regenwurm von Robert Kurt Hängekorb, der auch im Osten nicht fehlen darf. Die Entstehungszeit der beiden letzteren ist schwer zu ermitteln. Brecht und Der Flohmarkt von Peter Hacks ist nahezu das einzige, was bis 1989 in der BRD wahrgenommen wurde. George und Hänsel nehmen nicht weniger als neun Texte von Krüss auf; 1976 erscheint Ich muß dir etwas zwitschern von Josef Guggenmos (Die kleinen Trompeterbücher 116). Von da an verläuft die gesamte weitere Entwicklung sauber abgeschottet; niemanden interessiert, was auf der anderen Seite des Vorhangs geschieht. Mit den Kampfbegriffen "Klassenfeind" auf der einen Seite und "Parteiliteratur" auf der andern wird jeder Ansatz einer Begegnung verhindert.

 

Ostdeutsche Texte in westdeutschen Anthologien

Wie ein Blick in einige Anthologien zeigt, hat sich das auch nach 1989 kaum geändert (mit Ausnahme der Sammlungen von Gelberg und Kliewer):

 

Die Wundertüte (1989)
Hrsg.: Heinz-Jürgen Kliewer (Reclam)
Brecht (4); Fühmann (2); Hacks (4); Jentzsch (1), Kahlau (1); Kunert (4, davon 3 in der DDR veröffentlicht); Mucke (9); Jo Schulz (1) Eva Strittmatter (1)

Dunkel war's, der Mond schien helle (1999)
Hrsg.: Edmund Jacoby (Gerstenberg)
Brecht (4)

Großer Ozean (2000)
Hrsg.: Hans-Joachim Gelberg (Beltz&Gelberg)
Brecht (6); Hacks (1); Maurer (2); Inge Müller (1); Petri (4); Preißler (1); Saalmann (1); Schöne (7); Ullmann (2). Bei Kunert, Lunghard, Rathenow und Rosenlöcher ist nicht zu ermitteln, wann die Texte geschrieben und zum ersten Mal veröffentlicht wurden.

Die schönsten Kindergedichte (2003)
Hrsg.: Max Kruse (Aufbau)
Brecht (2); Hacks (3); Hängekorb (1); Kozik (1); Kunert (2, 1 aus Ringeltaube); Petri (1)

Zauberwort (2004)
Hrsg.: Rita Harenski (Arena)
Brecht und Hacks (je 1); Kunert (2 auch in Ringeltaube)S. Kirsch und Kunze (je 1 in BRD veröffentlicht).

Die Wundertüte 2. Auflage (2005)
Hrsg.: Heinz-Jürgen und Ursula Kliewer (Reclam)
Zusätzlich zur 1. Auflage 1989: Volker Braun (1); Brecht (2); Herold (1); Lorenc (1); Petri (3); Saalmann (2)

Das Kanapee ist unser Kahn (2006)
Hrsg.: Ursula Remmers und Ursula Warmbold (Reclam)
Hacks (3); Herold (4); Könner (2); Mucke (2); Petri (2); Saalmann (1); Eva Strittmatter (1).

Ich liebe dich wie Apfelmus (2006)
Hrsg. Amelie Fried (cbj)
Brecht (1); Fühmann (1); Hacks (1)

Schnick Schnack Schabernack (2008)
Hrsg.: Renate Raecke u.a. (Gerstenberg)
Brecht, Fühmann, Hacks, Kahlau, Könner, Weinert (je 1)

In wenigen Worten die ganze Welt (2009)
Hrsg.: Christine Knödler (Thienemann)
Brecht (4); Wenzel (1)

Sieben kecke Schnirkelschnecken (2010)
Hrsg.: Sibylle Sailer (Arena)
Fühmann, Hacks, Pludra (je 1).

Wo kommen die Worte her? (2012)
Hrsg.: Hans-Joachim Gelberg (Beltz&Gelberg)
Bernhof (1); Brecht (2); Buschmann (9, teilweise aus dem Jahr 2011);Fühmann (1); Kahlau (1); R. Kirsch
(1 aus Ringeltaube); Lunghard (11 von wann?); Mucke (2); Petri (3); E. Strittmatter (1)

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Entstehung der Anthologie

Die Kinderlyrik hat es schwer, sich auf dem Markt der Kinder- und Jugendliteratur zu behaupten. Nur selten kann sie dadurch Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass ein öffentlichkeitswirksamer Preis ausgelobt wird. Während in Österreich alle zwei Jahre der "Österreichische Staatspreis für Kinderlyrik" verliehen wird, ist es in Deutschland seit Jahrzehnten nur zweimal zu einem solchen Ereignis gekommen. 1968 hatte Josef Guggenmos die Prämie zum Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen, nicht den Jugendbuchpreis selbst; 1993 dann den Sonderpreis für Lyrik für sein Gesamtwerk. Zum ersten Mal konnten sich auch AutorInnen der ehemaligen DDR bewerben, aber gegen den Altmeister des Westens waren sie chancenlos. Um dieses Ungleichgewicht zu mildern, beschloss die Jury, wenn auch nicht einstimmig, ihre Honorare in die Veröffentlichung einer Anthologie mit Kinderlyrik der DDR zu investieren. Ute Andresen und Heinz-Jürgen Kliewer fanden kompetente Hilfe bei der Auswahl der Texte bei Claudia Rouvel und Steffen Peltsch, bis 1992 Redakteure der Fachzeitschrift „Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur“ im Kinderbuchverlag Berlin.
Im Juni 1993 gab es eine erste Vorschlagsliste von Namen und Texten, an der auch Heinz Kuhnert und Egbert Herfurth beteiligt waren. Weitere Hinweise kamen aus "Literatur im Kindergarten" (Berlin: Volk und Wissen 1989) und einige Jahre später von Christa Jauch, die an der PH Erfurt Kinder- und Jugendliteratur gelehrt hatte. Die Versuche, einen Verlag für die Anthologie zu interessieren, ziehen sich über Jahrzehnte hin und füllen einen Aktenordner. Als sich einer gefunden hatte, fehlte das Geld für den Druckkostenvorschuss. Der rührige, inzwischen leider verstorbene Hans Joachim Nauschütz stellte im Jahr 2000 den Kontakt zur PDS und Gregor Gysi her, ebenfalls ohne Erfolg!
Nach fast 20 Jahren habe ich mich nun entschieden, die Anthologie ins Internet zu stellen. Das hat außer der großen Verbreitungsmöglichkeit noch einen weiteren unschätzbar großen Vorteil: Bücher mit Kindergedichten erkennt man leicht daran, dass sie illustriert sind, d.h. Text und Bild gehören eng zusammen. Ein Buch mit so vielen Farbabbildungen wäre sehr teuer gewesen, was seinen Absatz erheblich eingeschränkt hätte. Außerdem zeigt die Anthologie nicht nur die literarische Qualität der Kinderlyrik der DDR, sondern auch den ihr nicht nachstehenden hohen künstlerischen Rang der Illustrationen.

 

Auswahl und Forschungsbericht

Beim ersten Blick auf die Liste der AutorInnen und die Anzahl der von ihnen abgedruckten Texte wird die ungleiche Gewichtung ins Auge springen. Dass Buschmann und Mucke mit je 14 Gedichten vertreten sind, Herold mit 18 und Petri gar mit 21, zeigt einerseits den Bekanntheitsgrad an, andererseits haben die Auswählenden jeweils andere Texte von ihnen vorgeschlagen. Es kann auch nur Zufall sein, dass Saalmann (7), Christiane Grosz (8) und Lindemann, Rennert und Eva Strittmatter (je 9) eventuell unterrepräsentiert sind. Entscheidender ist vielleicht die Frage, ob wichtige Vertreter des DDR-Kindergedichts ganz fehlen. Blättert man in den Grundschullesebüchern der ausgehenden 80er Jahre, dann hätten eventuell auch Gerd Eggers und Edith Bergner, Alfred Könner und Gerhard Holtz-Baumert einen Platz in der Anthologie verdient. Und noch ein Problem ergibt sich, wenn man ein zutreffendes Bild vermitteln möchte: Welchen Anteil haben die Texte, mit denen die Kinder auf ihr Leben in einer sozialistischen Gesellschaft vorbereitet werden sollten, also das, was Gudrun Schulz "Panegyrik" nennt. (Schulz 2006, 802 ff.) Dass sie sich nach der Wende von ihr distanziert, ist naheliegend: "Einige der Autoren der frühen Jahre der SBZ/DDR, wie Kuba (Kurt Barthel) und Max Zimmering, sind aus literarischer Sicht kritisch zu betrachten" (Schulz 2006, 762), aber es gibt auch ähnliche Stimmen z.B. aus dem Jahr 1981. "Allerdings stellte die historisch notwendige Betonung der Forderung nach der politischen Funktion der Literatur für Kinder und Jugendliche in der literarischen Praxis zeitweise das Übergewicht des Didaktischen her, wenn auch im Sinne politischer Aufklärung. Das künstlerische Ringen um eine sozialistische Lyrik für junge Menschen war auf Jahrzehnte mit diesem Problem verbunden." (Gelbrich 1981, 287) Um diese Frage zu klären, müssten einerseits vermutlich verschiedene Phasen der Entwicklung der DDR beachtet werden, andererseits ergeben die Anthologien ein anderes Bild als die Lesebücher. Darauf macht Dorothea Gelbrich aufmerksam: "Insofern sind Schullesebücher für das tatsächliche Angebot an Kinderlyrik in der DDR bis Anfang der achtziger Jahre nicht unbedingt repräsentativ". (Gelbrich 1995, 199). Die Auswahl will die ganze Breite der Kinderlyrik der DDR dokumentieren; sie bietet weder ein Zerrbild, das nur die Vorurteile bestätigen würde, noch kann man ihr vorwerfen, ein geschöntes Bild zu zeichnen, das die politische Propaganda ausblendet. Das Quellenverzeichnis macht deutlich, dass sehr viele Texte aus den Anthologien und Jahrbüchern übernommen wurden (vgl. Literaturliste im Anhang), einige aus Lesebüchern, ein sehr großer Teil aber auch aus den teilweise in hohen Auflagen erschienenen Bänden der AutorInnen. Besonders unzufrieden dürften die IllustratorInnen mit der Auswahl sein, verständlicherweise. Ihre Kunst "begleitet" die Texte, so dass ihre Bilder, und häufig vielleicht nicht ihre besten mehr oder weniger zufällig in die Sammlung geraten. Dennoch gehören sie gerade bei den Kindergedichten zum Erscheinungsbild ganz zentral dazu.

Die Beschäftigung mit diesen Zeugnissen einer abgeschlossenen Phase der deutschen Geschichte soll zeigen, dass selbst in so "harmlosen" Objekten wie Kindergedichten sich die politische Realität abgebildet hat und sie deshalb einerseits wie alle literarischen Texte zu historischen Dokumenten geworden sind, andererseits ihre ästhetische Kraft durch immer neue Lektüre am Leben gehalten werden muss. Wenn man bedenkt, dass nicht nur diejenigen, für die die Gedichte einst geschrieben wurden, inzwischen in die Jahre gekommen sind, sondern auch die Generation derer, die diese Entwicklung forschend begleitet hat, teilweise verstummt ist, dann darf man nicht mehr länger warten.

 

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